Julie Freudiger

Wahrnehmung, Bild, Erkenntnis

In der Epistemologie ist im Wandel vom 19. zum 20. Jahrhundert eine Interessen- verschiebung von der Suche und Beschreibung der richtigen wissenschaftlichen Methode hin zum Verhältnis zwischen Subjekt und (epistemischen) Objekt festzustellen, wobei das Beobachten wichtiges Erkenntnisinstrument wird, sowie das Verhältnis von Objekt und Re-Präsentation in den Fokus des Interessens rückt. Auch in der Kunst ist ähnliches zu beobachten: Dort verschiebt sich seit dem beginnenden 20. Jahrhundert das Interesse vom Kunstwerk als faktisch materielles Objekt hin zum ephemeren Kunstwerk als Prozess der (subjektiven) Wahrnehmung selbst. Im Gegenzug liessen sich auch die Wahrnehmungstheoretiker von der Kunst inspirieren und hegten erkenntnistheoretische Ambitionen. Es scheint demnach eine parallele Entwicklung sowohl in der Kunst wie in der Wissenschaftstheorie zu geben, die mit wahrnehmungstheoretischen Unterfangen korrespondieren.

Das Dissertationsprojekt zielt nun darauf, diese Entwicklungstendenz zu verfolgen und zu erörtern. Der Schnittpunkt von Kunst und Wissenschaft lokalisiere ich im gemeinsamen, historisch bedingten, Interesse an wahrnehmungstheoretischen Fragen und der daran anknüpfenden Etablierung neuer Wirklichkeitskonzepte. In der Dissertation soll die – im Folgenden kurz umrissene – Geschichte an einigen konkreten Beispielen verfolgt werden. Des weiteren lassen sich zudem aus den Ergebnissen möglicherweise Rückschlüsse auf diejenigen wissenschaftlichen Bilder implizieren, die dem theoretischen Zugriff im Schnittpunkt der Wahrnehmungs- und Wissenschaftstheorie entsprechen. Zudem werden Mechanismen der epistemischen Bildpraxis gestreift. Ein Fokus soll insbesondere auf der Veränderung und Beeinflussung der Erkenntnistheorie, Wahrnehmungstheorie und Kunst durch neue Technologien und der stets komplexer werdenden Bilderzeugung liegen.

Seit der griechischen Antike ist ein Okkularzentrismus angelegt, der dem Sehen Erkenntnisfähigkeit zuweist. Auf der anderen Seite sind mit dem Erkenntnisbegriff wesentliche Probleme verbunden, welche die Wahrnehmung betreffen. So zehren zwar beinahe alle Begrifflichkeiten des Erkennens, des Wahrnehmens und des Wissens vom Wortfeld der Sichtbarkeit und nahezu alle neuzeitlichen Erkenntnistheorien sind durch die im Sehakt verkörperte scheinbare Objektivität inspiriert, jedoch geht mit der Hegemonie des Sehsinnes auch eine notorische Kritik an diesem einher. Im 19. Jahrhundert gelangten wichtige Strömungen in der Naturwissenschaft, der Philosophie, der Psychologie und der Kunst zu dem Ergebnis, dass weder das Sehen, noch irgendein anderer Sinn Anspruch auf essentielle Objektivität erheben könne. Der Verlust des Sehens als Garant für Objektivität und somit für die Existenz einer allgemeingültigen, erfahrbaren Wirklichkeit verschärfte den Konflikt zwischen Sehen und Wirklichkeit. Die Wahrnehmungserfahrung barg nicht mehr die Garantie, die ihr einst als Fundament des Wissens zugeschrieben worden war und um 1860 wurden die Konturen einer epistemologischen Unsicherheit sichtbar.

Im Zuge dieser Entwicklungen drängen sich in der Wissenschaftstheorie Fragestellungen auf, wie und warum Bilder zu epistemischen Objekten werden und welche Folgen dies für die Wissensproduktion mit sich bringt – damit verbunden ist auch die Problematik der Frage nach der Realität des Wahrgenommenen. Es erscheint daher nur als konsequent, dass sich Wissenschaftstheoretiker für Gestaltlehre und Sinnesphysiologie interessierten und umgekehrt auch die Wahrnehmungstheoretiker und Anhänger des Gestaltparadigmas epistemologische Ansprüche hegten. In der Kunst lässt sich zudem ein paralleles Interesse feststellen. Die Künstler loteten durch die Thematisierung der Wahrnehmung Konzeptionen der Welt und des Selbst aus und stellten diese zur Diskussion. Kunst bietet demnach die Möglichkeit zu erkenntnistheoretischen Reflexionen. Auf beiden Seiten ist ein Streben und eine Produktion von Wissen zu verorten, wobei epistemische Fragen mit wahrnehmungstheoretische Unternehmungen korrespondieren.

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