Philipp Felsch

Wie keine andere Gegend der Erde hat die Arktis geographische Spekulationen genährt. Der Wettlauf zum Nordpol, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Weltöffentlichkeit in Atem hielt, unterschied sich von anderen geographischen Unternehmungen der Zeit dadurch, dass er entlang stark konturierter theoretischer Fluchtlinien verlief, die sich vielfach kreuzten. Ob man überhaupt zum Nordpol gelangen könne, und wie, ob dort eine Öffnung ins Innere der hohlen Erdkugel, ein hyperboräischer Kontinent oder "nur" der Schlussstein von Humboldts "physique du monde" zu erwarten sei: All das waren Fragen, die nicht vor Ort, sondern vorab entschieden wurden, in wissenschaftlichen Abhandlungen, polemischen Debatten und, vor allem, auf Kartenblättern.

Die Geographie, seit Kolumbus' Entdeckung Amerikas ein durchweg empirisches, induktives Unternehmen, wurde in den höchsten Breitengraden zur kartographischen Deduktion. Die gewagtesten Ableitungen formulierte August Petermann. Der Chefkartograph von Justus Perthes' Geographischer Anstalt in Gotha, der selbst nie weiter nördlich als bis Edinburgh gelangt war, machte die gesamte Polarforschung zu einer Frage der Karte. Schuld an der langen geographischen Vernachlässigung der Arktis war in seinen Augen die Mercatorprojektion, die den punktförmigen Nordpol zu einer absurden Linie auseinander zog. Im neuen Medium der Polkarte entwickelte Petermann eine meteorologisch-hydrographische Theorie, nach der der Pol verhältnismäßig einfach über offenes Wasser erreicht werden konnte, das sich östlich von Spitzbergen befinden musste. Zahlreiche Expedition machten sich diese Maßgabe zu eigen. Das offene Polarmeer war eine kartographische Obsession, an der Petermann allem faktischen Scheitern zum Trotz lebenslang festhielt.

Der Geograph, der schon als Kind Landkarten gezeichnet hatte und später Alexander von Humboldt begegnet war, verstand sich als dessen kartographischer Übersetzer. In Humboldts Idiom der thematischen Karte, die die Erde als Kräftesystem repräsentiert, entwickelte er seine Polartheorien. Dabei fungierte die Arktis als "Landschaft der Abstraktion". Nur hier, wo sich die Erde in planetarischer Nacktheit zeigte, konnte eine globale kartographische Spekulation, die mit Temperaturen, Strömungen und Druckverhältnissen rechnete, die epistemische Oberhand gewinnen. Am Nullpunkt der Geographie verloren ältere, figurative Landschaftsdarstellungen, die auf die individuelle Physiognomie von Orten bezogen waren, ihre wissenschaftliche Funktion. Petermanns kartographische Spekulationen sind in der Sammlung Perthes in Gotha in einzigartiger Dichte überliefert.

Von 1854 bis 1857 bereisten die Brüder Schlagintweit Indien: drei junge Naturforscher, die Alexander von Humboldt der East India Company für geomagnetische Messungen empfohlen hatte. Ähnlich wie ihr berühmter Mentor gruben sie Leichen aus und trieben im Fieberwahn über tropische Flüsse. Im Himalaya stellten sie Humboldts Höhenrekord ein. Adolph, der mittlere Schlagintweit, wurde in Zentralasien ermordet. Hermann und Robert kehrten lebendig nach Bayern zurück. Das erste, was sie nach ihrer Rückkehr taten, war, ein Inventar ihrer 14.777 Stücke umfassenden Sammlung zu erstellen und an den König von Bayern und die East India Company nach London zu schicken. Die Liste umfasste Gesteinsproben, getrocknete Pflanzen, Tierpräparate von der Fliege bis zum Elefanten, menschliche Skelette und Schädel, Gesichtsmasken aus Gips, ethnographische Artefakte und tibetanische Handschriften.

Die Eile der Brüder ist symptomatisch. Ihre zweite Lebenshälfte stand nämlich ganz unter dem Joch ihrer Sammlung. Mit dem väterlichen Erbe kauften sie Schloss Jägersburg bei Nürnberg, um ihre Beute ausbreiten, ausstellen und auswerten zu können. Experten wurden damit beauftragt, Teile des Materials wissenschaftlich zu bearbeiten. Um Anschluss an die imperiale Taxonomie zu finden, mussten Pflanzenpräparate ins Herbarium nach Kew. Um die Gunst von Gönnern zu sichern, mussten erlesene Stücke aller Art in die Bayrischen Staatssammlungen. Der Verkehr mit den Dingen stockte jedoch. Joseph Hooker, der selbst in Indien gesammelt hatte, focht die Sammlung der Schlagintweits als unwissenschaftlich an. Während Hermann an einer vielbändigen Synthese schrieb, begannen im Keller die ersten Stücke zu verrotten. Auch das Geld wurde knapp. Emil Schlagintweit, ein vierter, jüngerer Bruder, der ebenfalls in den Sog der Sammlung geraten war und sich autodidaktisch zum Tibetologen ausgebildet hatte, blieb schließlich nichts anderes übrig, als die Insolvenz zu vollstrecken: Schloss Jägersburg musste verkauft und Wagenladungen voll Moder eingestampft werden.

Überlebende Schlagintweitiana finden sich heute in halb Europa – eine weit verstreute Ruine. Das Projekt untersucht ihre Geschichte als Geschichte eines Paradigmas: Es rekonstruiert die sogenannten "Humboldtschen Wissenschaften" über ihre Beziehung zum Objekt. Naturforschung im 19. Jahrhundert war der Versuch, Ansammlungen von Dingen zu kapitalisieren, wobei die landläufige Vorstellung von einer kontinuierlichen Akkumulation, aus der schließlich Typen und Gesetzmäßigkeiten hervortraten, falsch ist. Sammlungen zirkulierten in einem Feld voller Polemik, sie waren den Gefahren der Provinzialisierung und der Zerstreuung ausgesetzt. Die 14.777 Dinge der Schlagintweits waren auf der Suche nach einer ebenso musealen wie epistemischen Bleibe. Welchen Schwierigkeiten diese Suche ausgesetzt war, ist Gegenstand des Projekts.

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